Wir schenken uns nichts…

Wir schenken uns nichts, so hat Familie Müller das in diesem Jahr beschlossen. 

„Wir sind alle Erwachsen und eigentlich haben ja alle auch schon alles. Wir besorgen was für die Kinder und wenn ihr kommt ist das ja Geschenk genug.“ So hatte es Herr Müller vorgeschlagen, und seine zwei inzwischen erwachsenen Söhne und die Tochter stimmten zu. „Da ist ja auch nachhaltiger.“; sagte Monika, die Tochter. „Und wir haben weniger Stress“ „Und, statt das Geld für etwas auszugeben, was den anderen vielleicht gefallen könnte, kauft sich lieber jeder selbst gleich etwas richtiges.“, sagte der Sohn Hans, der ein kleines Unternehmen gegründet hatte. „Ja, das stimmt, man muss auch mal praktisch denken!“, pflichtete der Sohn Max bei, der als Autor arbeitete. Also war es ausgemacht: „In diesem Jahr schenken wir uns nichts.“ 

Nichts bedeutet laut Synonymwörterbuch so viel, wie: Kein bisschen, nicht einen Deut, nicht das Mindeste, nicht das Geringste. Auch international ist dieses Wort relativ einfach verständlich: Niente, Nada, Nothing versteht jedes Kind, selbst, wenn es die jeweiligen Sprachen gar nicht kann. Aber wer nun meint, Familie Müller habe eine einfache und klare Absprache getroffen, die nun alles vereinfacht und ihnen ein entspanntes Weihnachtsfest verschafft, hat nicht mit der wundersamen Vieldeutigkeit der deutschen Sprache gerechnet. 

Im Kontext mit Schenken bedeutet „nichts“, meist so viel, wie „nichts außer“, „nicht der Rede wert“, „nichts großes“, „ja gerade so fast nichts“, also „quasi nichts“, „ist doch nur eine Kleinigkeit – nichts“.

Wir schenken uns nichts bedeutet dann, dass jeder etwas besorgen muss, das genau in eine dieser Kategorien fällt. Also so, dass nun wirklich niemand behaupten kann, man hätte die Abmachung gebrochen und doch so, dass man beim „Das wär doch nicht nötig gewesen.“ nicht mit leeren Händen da steht, vielleicht sogar die anderen um einen Hauch übertrifft. 

Schließlich will man ja nicht als Einziger ohne Geschenk da stehen und von den anderen nicht nur beschenkt, sondern vielmehr beschämt werden und als der Schwächere erscheinen. Da schenken wir uns wirklich nichts!

Wenn man „Wir schenken uns nichts“ als Suchbegriff in einschlägigen Internetseiten eingibt stößt man auf eine ganze Industrie, die sich darauf spezialisiert hat. Da gibt es das 24-teilige Herrenpflegeset „Wir schenken uns nichts“, den gleichnamigen Präsentkorb oder das Familienunternehmen, das Taschen, beutel, Postkarten und Plakate mit den Aufschriften „Wir schenken uns nichts“ oder „Du wolltest doch nichts…“ anbietet… Es kostet deutlich mehr als „fast nichts“, sieht aber tatsächlich nach nichts aus – ist also perfekt um nach langem suchen und intensivem investieren – etwas zum Verschenken zu haben, das einen nicht mit nichts dastehen lässt und von dem man doch mit Fug und Recht behaupten kann dass es nichts sei.

Es ist wie bei dem in der Psychologie beschriebenen Gefangenendilemma, wenn zwei Angeklagte Gefangen sind und sich nicht absprechen können. Wenn beide Gefangene die Aussage verweigern kann man nichts beweisen und es kommen beide frei. Wenn sich aber einer zum Kronzeugen macht bekommt er Vorteile, den anderen trifft dann um so Härter. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass schließlich beide aussagen und wohl noch lange – vor allem in ihrem Misstrauen – gefangen bleiben. 

So erging es auch Familie Müller. 

Statt der üblichen Notgeschenke, wie Kinogutscheine, die man auch noch am Weihnachtstag online kaufen und ausdrucken konnte oder einer teuren weiterverschenkten Flasche Wein sorgfältig mit etwas Schokolade und einer noch teureren Verpackung versehen zergrübelten sich nun alle Wochenlang über „Nichts“ den Kopf. 

Frau Müller fing wie wild an Plätzchen zu backen und Stollenteigsnacks und probierte unzählige meist hoch aufwändige Rezepte aus von denen nur ein Bruchteil gelang. Der Rest kam nicht durch die strenge und selbstkritische Qualitätskontrolle zu gewöhnlich, zu trocken, zu fettig, nicht schön genug…. Als Frau Müller wieder einmal fluchend in der Küche stand machte Herr Müller, dem seine Rolle als Versuchskaninchen eigentlich ganz gut gefallen hatte den großen Fehler und den ganzen Aufwand zu hinterfragen. „Du machst Dir immer so viel Mühe mit dem Weihnachtsbraten. Danach sind doch eh alle satt. Und dann gibt es ja noch Schokolade und Dominosteine und Lebkuchen…“ Noch bevor er es ausgesprochen hatte bereute Herr Müller es schon wieder. Eigentlich hatte er Erfahrung mit solchen Situationen, aber irgendwie hatte er sich dann doch nicht zurückhalten können. Frau Müller wurde – wie zu erwarten – noch wütender und nun wusste sie auch ganz genau wer Schuld war: „Du und deine bescheuerte Idee: »Wir schenken uns nichts«“, brüllte sie. Frag doch mal Deine Liebe Tochter, wie das ausgeht. Die kommt ja so schon jedes Jahr mit drei Sorten selbstgebackener Stollen an. Die perfekte Hausfrau, Instagram Influencerin und Mammabloggerin mit perfekt gestylter Küche, veganenem Holzspielzeug, exotischen Specials, immer perfekt Yoga tiefenentspannt! Und diesmal gibt es bestimmt noch Plätzchen als Geschenk dazu, weil wir ja, wenn nur ich mit meinen Boomer-Rezepten koche hier alle vergiften, verhungern und verblöden. „Das ist doch nur Essen, das zählt ja gar nicht. MIR macht das Backen Freude.“ Aber nicht mit mir. Diesmal bekommt jeder von mir ein Tütchen mit Selbstgebackenen Plätzchen, zwei exklusiven Backzutaten und einem Handgeschriebenen Rezept! „Das zählt ja auch nicht, das hatte ich bei der Weihnachtsbäckerei eh noch da. Und die Rezepte, die habe nur ganz schnell und flüchtig aufgeschrieben…“ Nimm das Monika!“, fauchte Frau Müller wütend, aber auch ein bisschen stolz auf ihren genialen Plan. 

Die Tochter Monika stand indessen wirklich auch in der Küche. Die Stollen hatte sie längst fertig gebacken und, statt sich mit so etwas banalem, wie Plätzchen abzugeben, hatte sie es auf das Zentrum des Weihnachtsessens, auf das quasi Allerheiligste abgesehen. Sie probierte Rezepte für vegane Alternativen zum Weihnachtsbraten aus. Schließlich müssten wir ja alle gesünder und nachhaltiger leben und die kleinen selbstgebastelten Rezeptbüchlein auf selbst geschöpftem Recyclingpapier mit sorgfältig eingeflochtenen Gesundheitstipps wären doch eine perfekte Abwehr, wenn der Bruder Hans, als Autor als „Nichtgeschenk“ eins seiner neuesten Bücher mitbringen und der älteste Bruder als ach so erfolgreicher Unternehmer teure Lederetuis mit seinem Firmenlogo verteilen würde, die ja „nur Werbegeschenke seien.“

Hans hingegen hatte sogar noch kleine Leselämpchen und besondere Lesezeichen gekauft, damit er nicht „nur“ mit seinem Buch dastünde…

Am Weihnachtstag war die Stimmung von Anfang an etwas aufgeladen. Frau Müller begrüßte Tochter Monika schon am Eingang mit den Worten: „Bei UNS kannst du die Schuhe getrost anlassen. Max begrüßte Hans mit „Na was macht die Bestsellerliste?“ Dieser konterte mit „Und dein Börsengang?“. 

Nachdem die Kinder beschert und zum spielen ins Nachbarzimmer gegangen waren stieg die Anspannung. Monika holte ihren Outdoorrucksack und lehnte ihn neben sich ans Tischbein. Max fing an seine Bücher mit den Leselampen herauszuholen. Da griff Hans sich an den Kopf: „Oh Mist, jetzt habe ich die Sachen im Auto stehen lassen!“ . Max platzte daraufhin der Kragen. „Jetzt sollen wir wohl auch noch alle mit rauskommen und deine neue Bonzenkarre bewundern. Was ist es denn ein neuer SUV oder wartet der Chauffeur mit der Stretchlimousine?“ 

Aber statt wie üblich kampfeslustig und schlagfertig zu kontern implodierte Hans regelrecht. Er sackte in sich zusammen, ließ die Schultern hängen, starrte auf die Tischplatte und antwortete leise: „Das Auto steht wieder beim Händler. Er fing an an einem Zweig vom Adventskranz herumzuspielen, der etwas herausragte immer wieder strich er ihn glatt. Unter seiner anderen Hand hatte sich eine kleine Pfütze gebildet, so sehr schwitzte sie. Ich konnte die Raten nicht bezahlen. Wir hatten ein schwieriges Jahr. Ein Zulieferer ist Pleite gegangen und ein Kunde hat nicht gezahlt. Wir werden es schaffen. Ich habe das Auto zurückgegeben, die Mitarbeiter verzichten auf das Weihnachtsgeld Zwei unsere Stammkunden haben einen Vorschuss bezahlt. Aber es ist wirklich nicht leicht.“ Er holte tief Luft. Danach gab es ein langes Schweigen in der Familie. 

Max, fand als erster wieder Worte: „Es tut mir echt leid. Eigentlich war ich eher neidisch auf deinen Erfolg, weil es bei mir auch gerade nicht so gut läuft. Mein letztes Buch hat sich total schlecht verkauft und der Verlag will den Vertrag nicht verlängern. So viel zum »Bestsellerautor« Ich muss nun wieder Lektoratsjobs annehmen um über die Runden zu kommen. Wieder gab es eine längere Pause in der alle erstmal Luft holten. 

Dann meldete sich Monika. „Wisst Ihr, ich habe mich in der letzten Zeit immer mehr in die Küche und die heile Instagram-Welt geflüchtet. Wir hatten einfach so viel Streit zu Hause. Nach Weihnachten wollen wir es den Kindern sagen. Er wird im Januar ausziehen. Frau Müller legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wisst Ihr, wir haben euch das nie erzählt, aber, nachdem ihr alle ausgezogen wart hatten wir auch eine große Ehekrise.“

Wieder gab es ein langes Schweigen. Alle brauchten die Zeit um etwas durchzuatmen. 

Dann wurde es ein wunderschönes Weihnachtsfest.

Die Geschenke hatten plötzlich gar keine Bedeutung mehr. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch überreicht wurden. Es spielte auch keine Rolle mehr, wer welche Plätzchen gebacken hatte. Aber was reichlich ausgeteilt wurde war Mitgefühl und Verständnis. Denn das Leben ist sowieso schon schwer genug. Auch das Leben der anderen. Das hatten nun alle verstanden. Und es tat gut nicht allein damit zu sein!

Zu Weihnachten braucht es gar nicht mehr als dass jemand nackt und verletzlich zur Welt kommt und sich als Mensch zu erkennen gibt.