Der letzte Engel

Lisbeth hatte Weihnachten früher immer sehr geliebt. Es war ihr Liebstes Fest im Jahr. Sie liebte es, alles schon im Advent festlich zu schmücken. Da war die ganze Wohnung von einem besonderen Glanz umgeben. Da waren Räuchermännchen mit ganz unterschiedlichen Duftkerzen. Ein großer Engelchor stand auf dem Fernsehapparat und ein Engelchor in der Schrankwand. Auf der Kommode standen die geschnitzten Musikanten mit ihren Engelsflügeln. Eine Mehrstöckige Pyramide stand auf dem Nähkästchen und die kleineren Pyramiden auf den beiden Tischen im Wohnzimmer. 

Als die Kinder noch klein waren war das ganze Wohnzimmer heiliger Boden. Die Kinder durften erst es erst am Weihnachtstag betreten. Am Weihnachtstag wurden erst die Adventskalender geöffnet, dann ging es in die Kirche und dann versuchten die Kinder ungeduldig durchs Schlüsselloch zu schauen. Aber da hing meistens die Mütze, die der Weihnachtsmann vergessen hatte. Erst als alle Kerzen angezündet waren durften die Kinder ihre Weihnachtsgedichte aufsagen und dann das Zimmer betreten. Sie stellten gemeinsam die alte Spieluhr an, die Stille Nacht spielte.

 Lisbeth erklärte den Kindern, dass sie wenn sie ganz still und brav sind die Musik der kleinen Holzengel hören könnten und wenn sie ganz genau hinschauten könnten sie sie sogar dabei erwischen, dass sie sich bewegten. 

Die Kinder waren immer fastsiniert. Sie konnten die kleinen Engel stundenlang anschauen und waren sich sicher, dass sie den ein oder anderen Ton gehört oder eine Bewegung oder ein kleines Lächeln gesehen hatten. Auch bei den Enkeln wirkte der Zauber. Oma Liesbeth musste nie schimpfen und über 2 Generationen kam niemals ein Kind auf die Idee, die kleinen Hölzernen Engel als Spielfiguren anzusehen. Oma Liesbeth musste nie schimpfen und sogar mit den vielen echten Baumkerzen gab es nie Probleme. Das Weihnachtszimmer hatte einen ganz besonderen Glanz und Geruch und es wirkte auf jedes Kind und auch auf die Erwachsenen. Alle wurden plötzlich viel ruhiger und verhielten sich ganz anders. Mit einem Schritt über die Türschwelle wurde es Weihnachten.

Als nach den Kindern auch die Enkel langsam erwachsen geworden waren veränderte sich das Weihnachtsfest. Die verschiedenen Familien feierten nun jeweils für sich an unterschiedlichen Orten und trafen sich erst nach den Weihnachtstagen für einen Nachmittag. Lisbeth war zu alt geworden, um alle zu bewirten. Und über die Jahre verschwand der Zauber ganz langsam und schleichend aus ihrer Wohnung. Nachdem Liesbeths Mann Herbert gestorben war, lohnte es sich nicht mehr einen Baum zu besorgen und mit den Baumkerzen blieben auch die Pyramidenkerzen aus. Dann war niemand mehr da, um die Spieluhr aufzuziehen. Es wurde still. In einem Jahr verschwanden die Räuchermännchen. Sie wurden an die Familien der Kinder verschenkt. Im Licht der alten Stehlampe fiel es kaum auf, dass auch die Engelfiguren über die Jahre immer weniger wurden.

Liesbeth machte es zunehmend Mühe in den Keller zu gehen und die Kisten mit den Engeln in die Wohnung zu bringen. Erst verschwanden die Musikanten und dann die Chorsänger Engel. Zum Schluss blieb nur ein einziger Engel übrig. Den hatte Liesbeth einmal von Onkel Albert geschenkt bekommen. Der passte in keine Kiste und wohnte deshalb in einer Schublade. Der letzte Engel war ein kleiner Porzellan Engel. Er stand nun ganz allein auf der Kommode. Er vermisste die Kinder und die Spieluhr. Er vermisste Opa Herbert und den Weihnachtsduft. Seine kleinen gemalten Augen glänzten in dem LED Licht der Stehlampe nur noch fahl. Ohne die anderen Engel fühlte er sich einsam. Wie sollte er alleine den Zauber des Weihnachtswunders in Liesbeths Wohnzimmer zurück bringen? 

Gerne hätte er geschrieen: „Siehe ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird…!“ Aber er war aus Porzellan. Und so blieb er kalt und steif auf der Kommode stehen. Er schaute Liesbeth zu, wie sie selbstgespräche führte, wie sie manchmal weinte und oft bei Regen lange aus dem Fenster sah. Innerlich schrie er ganz laut: „Rettet Weihnachten! Aber äußerlich blieb er kalt und reglos stehen. Unter dem Staub wurde er langsam blass und matt. Lisbeths Zimmer hatte nun gar keinen weihnachtlichen Glanz mehr. Es wirkte alltäglich und grau wie an einem trüben Novembertag. Welchen Sinn hat ein Engel, wenn er so gar nichts bewegen kann? 

Eines Tages wurde in der Nachbarschaft gebaut. Die Straße wurde mit schweren Presslufthämmern aufgebrochen. Da fingen die Schränke und die Kommode an zu vibireren. Der Kleine Engel fing langsam an sich zu bewegen. Er rutschte auf der Kommede hin und her. Schließlich beschloss er schluss zu machen und sich von der Kommode zu stürzen. 

Er fiel krachend auf den Parkettboden und zerfiel. 

Obwohl es ihr sehr schwer fiel sich zu bücken: Liesbeth hob den kleinen Porzellanengel in seinen Einzelteilen sorgsam auf. Sie konnte gut verstehen, wie er sich fühlte. Sie streichelte ihn sorgsam und befreite ihn vom Staub. Sie dachte zurück, was ihr das Weihnachtsfest früher bedeutet hatte. 

Sie erinnerte sich and die schönen Weihnachtsfeste mit den Kindern. Irgendetwas war über die Jahre auch in ihr zerbrochen. Sie spürte den Schmerz in ihrem Rücken. Manches war wohl nicht mehr zu heilen. 

Aber der kleine Engel tat ihr Leid. Aber der war sicher noch zu retten! So legte sie ihn sorgsam neben das Telefon und rief alle an: „Ihr müsst bitte sofort kommen! Bringt Leim und Lebkuchen, Kekse und Kerzen, Weihnachtslieder und Geschichten. Es ist schließlich ein Notfall…

Was sich findet… 

Was sich findet…

Da leuchtet ein Stern am Himmel droben
Wind lässt Wolken weiter ziehen
Weise andrer Pflicht enthoben
haben Zeit und schauen hin

Hirten sind grad in der Gegend
vermissen heute kein verlornes Schaf
sehen staunend Gottes Engel schwebend
Gleichwie im Traum doch nicht im Schlaf

Da findet sich ein Platz im Stall
Eine Krippe wird zum Kinderbett
Geborgenheit gibts überall
Mit Willenskraft wirds trotzdem nett

Ich sitze hier mit vielen Kerzen
Adventsgebäck, Glühwein und Tee
Doch irgendwas muss s(ich) noch finden,
damit das Wunder mir gescheh

Wo kann ich sehen, was Gott schon längst gefügt?
Wie entscheiden, dass das Einfache genügt?
Gott gib mir die Weisheit, die beides verbindet
und lass mich finden, was sich findet

Als der echte Weihnaachtsmann zu Besuch kam

Die meisten nannten ihn Jo. Auch wenn keiner wirklich seinen Namen kannte. Jo saß jeden Tag in der Innenstadt an seiner Ecke mit einer kleinen Blechdose vor dem Trafohäuschen und bettelte. Jo war eine sympatischer älterer Herr ungefähr Anfang 60. 

Wenn ihm jemand etwas in seine Büchse legte bedankte er sich: „Joa Danke und einen schönen Tag noch“. 

Jo saß bei Wind und Wetter an seiner Ecke. Jeden Tag. 

Im Dezember hatte einen roten Mantel von der Kleidersammlung bekommen und ein betrunkener von einer Glühweintour eines Betriebsausfluges fand es witzig, ihm auch noch eine Weihnachtsmann Mütze zu schenken. „Vielleicht kriegste ja nen Job als Weihnachtsmann“, lallte er und verschwand. Jo freute sich über die warme Mütze, denn es war sehr kalt und windig geworden in der Fußgängerzone. Mit dem roten Mantel, der Mütze und seinem langen grauen Bart – an einigen Stellen vom Rauchen vergilbt – sah Jo tatsächlich aus wie der Weihnachtsmann. So steckten ihm immer wieder einige Touristen Geld für ein Foto zu.

Jo kannte die Menschen, die regelmäßig bei ihm vorbei kamen. Er wusste genau, wer wie viel gibt und wer ihm noch einen schönen Tag wünschen würde, wer ihn gar nicht ansah oder wer sogar etwas Zeit für ein kleines Gespräch hatte.

Jo kannte auch Herrn Franke gut. Er wusste, dass er meist einen 5er auspackte und mit einem hektischen „einen schönen Tag noch“ verschwand. Herr Franke schien es immer eilig zu haben. Oft telefoniert er sogar und gab den 5er und den Wunsch für den schönen Tag, ohne das Telefonat zu unterbrechen im Vorbeigehn ab. 

Am Weihnachtstag war Jo unterwegs zu seinem Platz. Da sah er Herrn Franke, der es wie immer eilig hatte. Er rannte mit den Geschenken zum Auto, legte die Geschenke kurz aufs Dach. Dann klingelte sein Telefon. Nach einem kurzen Telefonat stieg er noch hastiger in sein Auto und fuhr weg. Die Geschenke, die noch auf dem Dach waren fielen nach wenigen Metern vom Auto herunter. 

Jo erinnerte sich, wie er früher Geschenke besorgt hatte. Das schönste war immer die Vorfreude, jemanden wirklich überraschen zu können. Jo packte oft die gekauften Packungen aus und packte sie in kleinere und größere Pakete um, so dass niemand raten konnte, was es ist. Vom der neuen Spielkonsole wurde erstmal nur eine Schokoladentafelgroße Packung mit dem Netzteil überreicht. Wenn die Kinder dann freudig überrascht waren freute er sich jedes Mal richtig mit. 

Nun dachte Jo zum ersten Mal, dass Herr Franke auch eine Familie haben könnte. Was, wenn er Kinder hat, die auf die Geschenke warten? Wahscheinlich brauchte hier ein Vater Hilfe, um seine Kinder nicht zu enttäuschen.

In einem Telefonat, dass Herr Franke im Vorbeigehen geführt hatte, hatte er eine Adresse mehrfach durchgegeben, ja geradezu buchstabiert. Das war in der Gotthelfstraße, gar nicht weit entfernt. Da beschloss Jo, die Geschenke dort hinzubringen. 

Er wusste nicht, wer in der Gotthelfstraße auf die Geschenke wartete, aber er konnte sich vorstellen, wie es war, wenn Kinder an Weihnachten leer ausgingen. Er hatte einmal alles verloren und viel Enttäuschung erlebt. Vielleicht könnte er das einem anderen ersparen.

Jo kam in die Gotthelfstraße. Imposante Gründerzeithäuser mit riesigen Wohnungen und imposanten verzierungen an den Fassaden. Durch die Fenster konnte man die riesigen Stuckdecken sehen. Jo suchte die Messingschilder am Hauseingang ab. Die Tür war offen 1. Etage. Jo klingelte. 

Familie Franke hatte indessen noch gar nicht bemerkt, dass die Geschenke fehlten. 

Herr Franke öffnete die Tür. Er erkannte Jo sofort. Verlegen stammelte er: „Äh, das ist jetzt aber echt ungünstig. Ich habe gerade kein Kleingeld dabei. Wir haben heute auch noch Gäste eingeladen…“

Jo, wollte gerade anfangen zu erklären, dass er die Geschenke auf der Straße gefunden hatte, da rannnten schon die Kinder durch den Flur. Auch sie erkannten den Gast sofort und riefen begeistert: „Der Weihnachtsmann!“ Die Kinder hüpften freudig durch den Flur und riefen immer wieder „Der Weihnachtsmann! Der Weihnachtsmann!“ Jo zeigte auf die Geschenke. Herr Franke begann allmählich die Zusammenhänge zu verstehen und die Kinder waren sich in ihrer Freude noch sicherer: „Der Weihnachtsmann! Der Weihnachtsmann!“ Die beiden Männer sahen sich an von Vater zu Vater und wussten in dem Moment, dass sie jetzt mitspielen und in ihren Rollen bleiben müssten. Herr Franke versuchte noch halblaut zu sagen, dass der Weihnachtsman sicher gleich weiter müsste, da zerrten die Kinder Jo mit den Geschenken schon in das Wohnzimmer. Frau Franke sah Ihren Mann erschrocken an. Der zuckte mit den Schultern. 

Die Kinder hatten Jo aber schon ins Herz geschlossen. 

„Der Weihnachtsmann ist hier! Der echte Weihnachtsmann!“, riefen sie, während sie um Jo herumhüpften. Der kleine Hans stellte sich vor ihn, zog ängstlich aber entschlossen an seinem Bart und sah ihm prüfend ins Gesicht. Als der Bart aber nicht abging, wie beim Weihnachtsmann im Einkaufszentrum waren die Kinder nun absolut sicher, dass es wirklich nur der echte Weihnachtsmann sein konnte. Frau Franke nahm vor allem wahr, dass Jo so gar nicht weihnachtlich roch. Sie schaute auf den ausgefransten Mantel und die vergilbten Barthaare. Dann sah ihren Mann durchdringend an. Der lächelte etwas verlegen und deutete auf die Kinder.

Frau Franke warf indessen geistesgegenwärtig noch schnell eine Decke auf das Sofa, bevor der Weihnachtsmann – sich genüsslich in einen Sessel fallen ließ. 

Jo spielte die Rolle des Weihnachtsmanns perfekt. Er lobte die Kinder für ihre Gedichte und fragte sicherheitshalber nach, ob auch alle brav gewesen waren. Dann überreichte er die Geschenke und erzählte den Kindern kleine Weihnachtsgeschichten. 

Er erinnerte sich, wie er seinen Kindern früher Geschichten erzählt hatte. Er erzählte den Kindern von der Kälte am Nordpol, dabei wurde ihm innerlich ganz warm. Es berührte ihn tief, dass sich die Kinder so sehr über sein Dasein freuten, dass sie noch nicht einmal die Geschenke ausgepackt hatten. Wann hatte sich jemand zuletzt so über sein bloßes Dasein gefreut? 

Herr und Frau Franke spürten die Freude der Kinder. Dennoch war ihnen die Situation unangenehm. 

Frau Franke überlegte. Wie soll denn das gut ausgehen? Der Besuch kommt gleich und wir können Jo aber nicht hier aufnehmen. Wir haben doch gar keinen Platz. Er kann nicht einfach hier wohnen oder irgend sowas… 

Herr Franke überlegte, ob es irgendwo eine Einrichtung oder eine Obdachlosenunterkunft, irgendeine Diakonieweihnachtsfeier oder so gäbe, wo man ihn hin vermitteln, hinschicken könnte. In der Zwischenzeit hatte Jo, Verzeihung der Weihnachtsmann den Kindern erklärt, dass er noch viele andere Kinder besuchen müsste, dass die Kinder weiterhin so brav sein sollten und, wie ihre Eltern auch mit armen Kindern teilen sollten. Dann ging der Weihnachtsmann durch den Flur zur Ausgangstür und verabschiedete sich höflich. Frau Franke murmelte verwirrt Danke! Herr Franke holte einen 50 Euro Schein heraus und wollte ihn gerade noch am Ausgang überreichen, da schaute ihn Jo entsetzt an. Aber der Weihnachtsmann nimmt doch kein Geld!“ sagte Jo mit einem Lächeln und schloss die Tür hinter sich. Draußen wehte ihm der kalte Wind ins Gesicht – und doch fühlte er sich warm, wie schon lange nicht mehr.