Wie man mit Schokoladenweihnachtsmännern eine Weltrevolution startet…

Wenige Tage vor Weihnachten stand vor der Tür von Familie Hansen in der dritten Etage ein kleiner Schokoladenweihnachtsmann. Frau Hansen dachte erst. Das ist sicher ein Verwechslung, bestimmt für einen Nachbarn. Aber vor den Türen aller Nachbarinnen und Nachbarn standen auch Schokoweihnachtsmänner. Das ist bestimmt irgend so eine Werbung. Murmelte Herr Hansen, und schaute kaum vor seiner Zeitung hoch. Aber es war keine Marke oder kein Produkt erkennbar und ein Prospekt lag auch nicht bei. 

Auch die anderen im Haus spekulierten, von wem das anonyme Geschenk stammen könnte. Vielleicht eine kleine Aufmerksamkeit von der Hausverwaltung sagte Frau Müller im Treppenhaus zu Herrn Lehmann. Herr Lehmann winkte ab. Wenn die aufmerksam wären würden sie sich darum kümmern, dass die Klingel repariert wird, die ist schon seit Monaten kaputt. 

Nein, die Schokoladenweihnachtsmänner mussten von irgendeinem Nachbarn oder einer Nachbarin sein. Aber niemand wollte sich zu erkennen geben. Die Spannung und den detektivischen Ehrgeiz spürte man bei jeder Begegnung im Haus. Selbst Herr Schreiber, ein mürrischer alleinstehender Rentner, der sonst nur durch seine Beschwerden wegen Kinderwägen im Hausflur auffiel grüßte auf einmal freundlich und schaute noch eine Weile fragend, so als ob er im Gegenüber nach irgendeiner Reaktion oder Geste suchte, die den oder die Schenkende verriet.

Einige Tage später standen schon wieder kleine Geschenke vor der Tür. Diesmal waren es Papiertüten mit selbst gebackenen Plätzchen. Wieder ohne Absender. Anscheinend hatte jemand beschlossen, dem Beispiel zu folgen. Frau Hansen schlug vor, doch mal an den Türen zu riechen, wer die Plätzchen gebacken haben könnte, aber durch die vielen Päckchen lag der Duft im ganzen Haus. 

Frau Lehmann drängte ihren Mann: „Komm, du musst jetzt auch was kaufen, sonst denken die noch wir wären auf solche Almosen angewiesen.“ 

Auch Herr Lehmann hatte große Mühe damit sich einfach beschenken zu lassen. Also kaufte er griesgrämig die letzten Lebkuchen aus dem Laden an der Ecke um sie zu verteilen. Als er sie schließlich spät abends auf die Türschwellen legte stellte er sich vor, wie die anderen am nächsten Morgen rätseln würden. Zu gerne hätte er noch etwas an der einen oder anderen Türe gelauscht. Schon lange hatte er keinen solchen Spaß mehr gehabt.

Als Familie Dubois, die im Sommer aus Belgien eingewandert war das dritte Geschenk von der Türschwelle holte hielten sie es für einen deutschen Brauch, den Nachbarinnen und Nachbarn zu Weihnachten etwas zu schenken. Frau Dubois sagte: „Was für eine schöne Tradicion, lass uns da mitmachen.“ und wenige Tage später stand belgische Schokolade vor allen Türen. Dies hätte ein Hinweis sein können, aber da man die Dubois aufgrund ihres Akzents für Franzosen hielt und schon bald die nächsten Präsente vor den Türen standen fiel es niemandem auf. 

Das ganze Haus schien mitzumachen. Alle waren gebannt beim Schenken und raten. Mal waren schöne Weihnachtskarten in den Briefkästen, mal hingen kleine Engelsfiguren an den Türklinken und immer wieder gab es die tollsten Sorten selbstgebackener Kekse.

Das Schenken wurde geradezu zum Sport. Herr Hansen nannte es „Wichtelfieber“. Und es blieb nicht auf das Haus begrenzt. Denn selbst der kleine 10-Jährige Hansen Junior, der sonst nie zum Teilen bereit war, wenn es um Süßigkeiten ging stimmte inzwischen zu, als Frau Hansen vorschlug doch von den selbstgebackenen Keksen 10 kleine Tütchen abzupacken und sie dem Vater, der zwischen den Feiertagen arbeiten musste für die Nachbarn seiner Zweitwohnung in Frankfurt mitzugeben. Auch in Belgien ließen sich die Schwestern von Frau Dubois von diesem tollen „deutschen Brauch“ inspirieren…

Woher ich das alles weiß? Naja, neulich lag ein Schokoladenweihnachtsmann vor meiner Tür. Er trug eine Schleife mit einem Zettel, auf dem diese Geschichte stand. Die Revolution ist nicht mehr aufzuhalten…

Sebastian Keller

Ihr seid das Licht der Welt“ Mt 5,14

(C) Sebastian Keller – Die Geschichte darf (unter Angabe der Quelle) zu nicht Kommerziellen Zwecken kopiert und verschenkt werden.